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Ay, mi alemanita!

Februar 22, 2017 0 comments

Hast Du Lust, mir ein wenig von deinem Leben zu erzählen, fragte ich Carmen bei einem Besuch der Familie meines Freundes. Carmen ist 92 Jahre alt, zirka 1.55 Meter groß und wahnsinnig auf Zack. „Möchtest du eine Chronik oder eine Monografie verfassen?“, fragt sie mich. Ich muss lachen. „Weder noch“, erkläre ich ihr. Es soll ein Eintrag für meinen Blog werden. Blog, so richtig klar wurde ihr nicht, was ich damit meine. Aber ja, ich dürfe gerne mal vorbeikommen und dann würde sie mir ein wenig von sich erzählen. „Mi alemanita“, sagt sie beim Abschied und tätschelt meine Hand.

Ich freue mich auf das Treffen. 92 Jahre, das bedeutet fast eine Reise durch ein Jahrhundert, das Leben in einer mallorquinischen Großfamilie, Spanischer Bürgerkrieg und 2. Weltkrieg, Franco, die Anfänge des Tourismus und vieles, vieles mehr.

Ältere Leute haben Zeit – das ist ein Märchen, stelle ich bei der Terminsuche fest. Carmen ist beschäftigt. Montag, da sei sie mit ihrem Bruder auf dem Land, Dienstagvormittag, ja, da kann ich. Dann kommt der Anruf am Montag – es geht leider doch nicht morgen Vormittag…also schiebe ich das Treffen auf den Nachmittag, da kann mir Carmen eine Lücke „freiräumen“.

Ich klingle pünktlich um 17 Uhr in der Straße direkt bei der Kirche Felipe Neri. Carmen macht mir auf und führt mich durch den Flur direkt ins Wohnzimmer. Es ist herrlich warm, das Geheimnis der Wärme verbirgt sich unter dem kleinen runden Tisch am Fenster: ein brasero.

Wohlig warm an den Beinen, kalt am Rücken…das sagt man dem Brasero nach.

Die Tischdecke reicht bis auf den Boden, Carmen legt sich die Decke über die Beine, aber zuerst darf ich ablegen, bekomme etwas zu trinken und selbst gebrannten Mandeln, die Carmen auf den Tisch stellt.

Die Versuchung steht in den nächsten zwei Stunden verlockende zehn Zentimeter vor mir. Meine Hand wird das ein oder andere Mal tief in das Glas tauchen und die köstlichen Mandeln rausfischen.

„Fange mit einem Witz an, das wird ihr gefallen,“ hatte mir mein Freund geraten. Er erzählte mir den Witz: Warum setzen Mallorquiner beim Autofahren aus Prinzip nicht den Blinker? Keine Ahnung. Warum? Weil sie denken: Was geht es dich denn an, ob ich nach rechts oder links will? F. lacht. Ich warte auf den zweiten Teil des Witzes…aber das war schon alles. „Mallorquiner gelten als verschlossen, sie teilen sich nicht gerne mehr als nötig mit und privat ist privat“, erklärt mir F. Ach so…

Ich versuche mich also im mallorquinischen Witzeerzählen. Eine Herausforderung, auf Spanisch und dann noch ein Witz, der sich mir nicht direkt erschloss. Carmen lacht aber dankbar und will dann gerne auch ein paar Details über mich und F. wissen. Ich verweise sie auf den mallorquinischen Witz und sage, ich mache gerade große Fortschritte in mallorquinischen Tugenden: Diskretion. Sie versteht und bohrt nicht weiter.

„Aber Du, frag Du nur frei heraus“, sagt sie direkt. „Und wenn mir eine Frage nicht passt, dann sage ich das schon klar“, und lacht dabei keck.

Die Reise zurück beginnt

Die nächsten zwei Stunden tauche ich in die Welt des Mallorcas im letzten Jahrhundert ein.Schon beim Reinkommen fiel mein Blick auf ein kleines schwarz-weiß Foto auf der Kommode im Salón, der „guten Stube“, die vor allem bei Besuch benutzt wird zum Essen und zusammensitzen. Acht Kinder stehen dort aufgereiht, und das Wort Orgelpfeifen trifft hier richtig zu. Kein Knick ist in dieser menschlichen Orgelpfeife zu sehen. Carmen holt das Foto und sagt: „Da fehlen noch vier, die waren noch gar nicht geboren.“

Sie ist Nummer sechs von rechts, oder drei von links, ein kleines Mädchen mit dunklem Pony und einem Kleidchen mit kleinen Taschen. Zwölf Geschwister waren sie, sechs Jungs und sechs Mädchen. Die meisten tragen paarweise die gleichen Kleider, nur Carmen hat etwas anderes an. „Ich trug meistens die abgelegten Kleider meiner Schwestern auf, aber an diesem Tag wollte ich unbedingt etwas Eigenes anziehen, etwas Neues. Mein Kleid hatte sogar kleine Taschen, das fand ich besonders toll. Dort steckte mir meine Mutter ein kleines Taschentuch hinein, das machte mich noch stolzer.“

„Es war schön, meine Kindheit war schön“, erzählt sie direkt zum Einstieg. Klar, es sei trubelig gewesen, und Streit gehört dazu, auch Tränen, ganz normal bei 12 Kindern. Ab und an gab es auch mal eine Backpfeife, wenn sie nicht ganz brav waren. Sie lebten in einem riesigen Haus in der Nähe der bekannten Schokoladerie Ca´n Joan de S´aigo. Mit Garten, Patio, vielen Stockwerken und Hausmädchen. Alle Mädchen schliefen in einem Zimmer, sechs Betten nebeneinander, keine Stockbetten. „Ein riesen Zimmer mit wahnsinnig hohen Decken“, erzählt Carmen. Respekt und Rücksichtnahme, das war ganz, ganz wichtig. Abends zur Schlafenszeit war Ruhe, da gab es nichts. „Und wenn wir nicht brav waren, mussten wir auf die Knie und mussten um Verzeihung bitten. Dann hieß es, ein Kuss und eine Umarmung und alles war wieder gut.“

Sie holt weiter aus: „Bei den Bombenangriffen während des Bürgerkriegs zogen wir in ein Zimmer um, das im Inneren des Hauses lag. Bei einem Angriff stürzte die Decke ein, ein großes Loch in der Decke und die Bombe fiel um ein Haar auf einen meiner jüngeren Brüder, der krank war und im Bett lag. Aber alles ging gut aus.“

Vater Einzelkind, er selbst Vater von 12 Kindern

Der Vater: Einzelkind, Dozent in Physik und Chemie. „Stell dir vor, Einzelkind, und dann selbst 12 Kinder. Zum Glück hatte meine Mutter baskisches Blut und war „eifrig“, sagt Carmen. Auch die Großmutter lebte bei ihnen, Hilfe im Haushalt hatten sie durch Hausmädchen. Bettwäsche und Kleider für 12 Kinder waschen, das ging nur mit Hilfe, ohne Trockner, ohne Waschmaschine, kein Aufzug im Haus…

Carmen lebt heute mit ihrem Bruder zusammen, der Pfarrer ist. Der Glaube war ein ganz wichtiger Teil in der Familie. Von den 12 Geschwistern wurden sechs Priester oder Nonnen, zur Goldenen Hochzeit der Eltern kam nur eine Reise nach Rom mit Privataudienz beim Papst in Frage. Carmen holt ein Fotoalbum hervor und zeigt mir stolz die Bilder. Papst Paul VI. beim Handauflegen, die vielen Zeitungsauschnitte, die damals in den spanischen Zeitungen zu dem Besuch erschienen. „Eine ganz besondere mallorquinische Familie“, steht dort in den Überschriften.

Carmen kehrt noch einmal in die Kindheit zurück, vieles ist noch ganz frisch. „Als eine meiner Schwestern auf uns Kleineren aufpassen sollte, tat sie uns in einem Zimmer zusammen, machte das Licht aus und sagte: und jetzt alle Autoscooter spielen. Wir stießen im Dunklen zusammen bis wir alle Schluckauf hatten.“ Die Mutter war alles andere als erfreut.

Offen waren sie als Familie, obwohl schon selbst viele Kinder, durfte ein österreichisches Mädchen für ein Jahr bei ihnen leben. Kinder, die im 2. Weltkrieg in der Heimat nicht gut leben konnten, durften bei mallorquinischen Familien unterkommen. Annemarie wohnte bei der Großfamilie und kam mehrmals wieder. Selbst bis heute besteht der Kontakt.

Bildung als höchstes Gut

Carmen richtet sich ein wenig in ihrem Sessel auf. „Die Schule war wichtig“, sagt sie. Alle bekamen eine Ausbildung, die meisten studierten. Die Schule, in die sie zuerst gingen, war eine Schule, in der die Kinder gemischt zur Eucharistie gingen, damals fast schon revolutionär in einem katholisch geprägten Mallorca. Bachillerato und Reválida, der höhere Schulabschluss. Dann war Krieg und für ein Studium konnte sie nicht aufs spanische Festland gehen, also lernte sie Lehrerin in einem Institut auf der Insel, machte die Oposiciones, um später eine feste, sichere Stelle zu haben. Oposiciones sind Ausschreibungen, die die Regierung alle Jahre ausschreibt. Wer diese beseht, hat es „geschafft“, die Stelle gleicht einer Verbeamtung, das Gehalt ist entsprechend höher als bei normal Angestellten.

Doch Carmen wollte sich noch nicht direkt als Lehrerin niederlassen, sie stellte lieber Gruppen zusammen, um zu Kongressen zu reisen, und ließ sich für maximal zehn Jahre freistellen. Und wie es so ist, die Zeit verflog…plötzlich waren die zehn Jahre vorbei. „Dann kam wieder die mahnende Frage meines Vaters: willst du nicht jetzt doch als Lehrerin fest arbeiten? Ich machte noch einmal die Prüfung in Madrid, um in Palma unterrichten zu können.“ Ihre bisherige Zulassung reichte nur für kleinere Orte, sie war in einem kleinen Dorf gelandet, was schön war, dort mit den Nonnen und den Kindern zu arbeiten, aber weit von Palma entfernt.

Carmen ist bescheiden, aber auch diese Prüfung schafft sie als Beste und kann ab jetzt als Lehrerin in Palma arbeiten. Aber als ganz normale Lehrerin zu arbeiten, war für sie fast zu wenig Herausforderung. Die Kinder, die sie unterrichtete, kamen aus armen Verhältnissen, die meisten waren Waisen. „Als ich sah, wie die Ordensschwestern mit den Mädchen betteln gingen, raunte ich ihnen zu: Betteln ist in Ordnung, aber die Mädchen sollten sich nicht daran gewöhnen. Sie sollen lieber lernen“, sagt sie zu mir mit gesenkter Stimme.

Und dann übt sich Carmen in ein wenig Selbstkritik und erzählt folgende Geschichte: Als eine kleine 9-Jährige einmal zu ihr kam und sagte: ich verstehe die Aufgabe und deine Erklärungen nicht. Und weißt du auch warum? Weil Du sie selbst nicht verstanden hast, sagte mir das kleine Mädchen. „Stell dir mal vor, so eine kleine Clevere. Und recht hatte sie. Ich setzte mich also zu Hause hin und ließ mir von meinem jüngeren Bruder noch einmal gut die Aufgaben erklären, um am nächsten Tag nicht blöd dazustehen. Diesmal war die 9-jährige zufrieden mit mir“, sagt sie lachend.

Rente, und nun?

Und dann, was kam nach der Rente? Aufhören war für sie nicht vorstellbar, also arbeitete sie noch freiwillig zehn Jahre mit Jugendlichen, die Probleme mit Drogen hatten. Bildung, für Carmen absolut notwendig. Und als nach zehn Jahren diese Arbeit endete, ging sie zu einem Zentrum, in dem Prostituierte Unterricht erhielten. „Ich habe gearbeitet, bis ich 80 Jahre alt war“, sagt sie.

Es klingelt. Der kleine Pedro kommt reingelaufen, blond und neugierig schaut er durch die Glastür im Wohnzimmer. Er ist das Kind eines der vielen Neffen; bei dieser großen Familie verliere ich den Überblick. Ganz Palma scheint hier verwandt zu sein. Carmen steht flink auf und öffnet ihm, der Kleine wird geknuddelt und geherzt. Und weil er vor kurzem Geburtstag hatte, eilt Carmen ins Nebenzimmer, um ein kleines Geschenk für ihn zu holen: eine silberne Glocke aus Peru, oben ziert ein Lama den Knauf. Einen Keks gibt es noch dazu. Der Kleine ist seelig. „So machen wir das hier, sagt Carmen zu mir. Immer eine offene Tür.

Die Arbeit als Lehrerin ist vorbei. „Jetzt sitze ich hier und bete den Rosenkranz“, sagt sie schelmisch. Mallorquinischer Humor kann durchaus trocken sein, stelle ich fest.

Und dann versucht sie es doch noch einmal, mehr über mich und F. herauszufinden. Woher kennt ihr euch, er sei ja ein ganz Guter, wie sie findet. Den letzten Punkt kann ich natürlich nur bestätigen. Auch das Kennenlernen bei der Olivenernte ist kein Geheimnis.

Und die vielen Touristen heute, die vielen Deutschen. Wie sie das findet? Carmen ist pragmatisch und reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. „Mallorca war arm“, sagt sie. Der Tourismus habe Geld gebracht. Das sei gut. Und gute und schlechte Leute gebe es überall. Ihre christliche Haltung und positiver Lebensgeist lässt sie offen sein.

Die Reise in die Vergangenheit ist vorbei. Carmen steht auf, geht in die Küche, um ein paar Quelys Kekse mit würziger Sobrassada für mich zu machen. Die Würste hängen fein säuberlich aufgereiht am Fenster, damit sie frisch bleiben. Quelys fehlen in keinem mallorquinischen Haushalt. Auf dem Kühlschrank hängt ein Einkaufszettel: Galletas Inca steht dort, bereits durchgestrichen.

Die Sobrassada ist köstlich, ein wenig scharf und würzig. Das Geschirr kommt in die Spüle, das mache dann schon die Frau, die im Haushalt hilft, am nächsten Tag.

Carmen bringt mich zur Tür. 92 Jahre, gut zu Fuß, absolut wach und fit im Kopf und reich an Erinnerungen. Wir verabschieden uns mit einer Umarmung. „Komm bald noch mal vorbei“, sagt sie, „du weißt, wo du mich findest.“

Auf der Straße tauche ich langsam wieder auf, kehre ins Jahr 2017 zurück. Die Einkaufsstraße San Miguel ist wie üblich voll, die Klamottenläden grell erleuchtet. Ich bin dankbar für diese spannenden Einblicke in ein Mallorca, das Besuchern oder Fremden nicht so einfach offensteht.

 

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