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Gefühlte Gans mit Strubel

Dezember 28, 2016 0 comments

Alle reden davon, dass Europa sich annähert, dass die Grenzen verschwimmen, die Geschmäcker, die Kleidung…viele monieren es als einen Einheitsbrei, der uns in den nächsten Jahren überrollen wird, in dem wir alle gleich aussehen, die gleiche Musik hören, die gleichen Sachen denken und mögen. Ich sage euch, ihr irrt. Und zwar gewaltig. So einfach fegt man jahrelang gewachsene kulturelle Unterschiede nicht weg. Ich wurde Zeugin davon, in den Weihnachtsferien. Besuch bei der Familie zu Hause in Berlin. Ein mallorquinisches Mitbringsel in Form eines 1.83 großen Mannes begleitete mich diesmal.

Er schätzt das „Deutschsein“

Er, wir nennen ihn hier F., ist offen für die deutsche Kultur. Er spricht, wie ich finde, ausgezeichnet Deutsch. Ich bin vor allem deswegen so angetan davon, weil er es sich vor Jahren mühsam alleine in der Volkshochschule beigebracht hat bzw. dort emsig Kurse besucht hat. Aus eigenem Antrieb. Einfach so. Das finde ich sehr beeindruckend!

Es war auch nicht Fs erste Reise nach Berlin. Bereits viermal war er schon dort, was mich vor dem Druck, das absolute Touriprogramm absolvieren zu müssen, befreite. Kein Anstehen vor dem Reichstag, kein Herumtapern durch den Potsdamer Platz, selbst das Brandenburger Tor sparten wir aus. Es hätte eigentlich ein recht ruhiger Kurztrip mit Abstechern nach Frohnau in der ersten Nacht, wo uns eine Freundin liebevoll empfing, werden können. Dann nach Schöneberg runter, wo wir netterweise die Wohnung von Freunden nutzen durften. Es war grau, es regnete in einem fort, was unseren Entdeckungsdrang ebenfalls schmälerte. Zusätzlich brachte ich eine mallorquinische Erkältung mit, die sich anscheinend wunderbar mit den heimischen Viren vertrug und noch einmal richtig aufblühte.

Die Sandsammlung machte den Anfang

Wir kamen um Mitternacht an. Eine Freundin hatte wunderbarerweise angeboten, uns abzuholen. Da stand sie, pünktlich, wir brausten durch die Nacht nach Frohnau, wo wir auf liebevoll vorbereiteten Betten mit einem Glückskeks auf jedem Kissen schlafen durften. Das Staunen nahm seinen Lauf. Die Frohnauer Freunde reisen gerne ans Meer. Sie lieben das Wasser, mehr noch lieben sie den Sand am Strand. Aus unzähligen Meerurlauben haben sie seit Jahren daher eine kleine Sandkollektion aufgebaut, die in identischen Reagenzgläschen in der Gästetoilette hängt. Fein säuberlich beschriftet, mit Ort und Datum versehen. F. staunte und staunte. „Wie kann man vorher wissen, welchen Sand man mitnehme möchte, und all die gleichen Röhrchen und immer gut planen, den Sand auch ja einzupacken!“…ein harter Einstieg in das deutsche Denken für den Mallorquiner. Wir wurden nach oben geführt. „Ihr dürft heute in dem Zimmer schlafen, das normalerweise das Meditationszimmer ist.“ Der Ehemann meditiert gerne, steht dafür recht früh aus. Um 5 Uhr, um genau zu sein. Der nächste herbe Schlag für das mediterrane Gemüt. Ein Zimmer, nur für Meditation!! Unglaublich.

Baumnummern und andere Ungeheuerlichkeiten

Am nächsten Morgen fuhren wir Richtung Schöneberg. Der nächste Staune-Stolperstein wartete bereits. Wir saßen in der S-Bahn. Draußen vor dem Fenster rauschten sie vorbei, die Bäume an der S-Bahntrasse. Mein deutsches Auge sah nichts. Zumindest nichts Auffälliges. Das mallorquinische Auge erspähte jedoch spannende Dinge. „Schau mal Doro, da, da sind lauter kleine Schilder an den Bäumen. Jeder Baum hatte eine Nummer, sogar der dünnste, mickrigste Baum am Wegesrand.“ F. staunte nicht schlecht und bemühte das deutsche Klischee von Ordnung und Struktur. Wenn sogar jeder Baum markiert ist, nummeriert und in einem Verzeichnis notiert, das wolle schon was heißen. Ich gebe zu, die Baumnummern waren mir bisher noch nie aufgefallen. Bei einer Jahrtausend alten Eiche verstehe ich es ja, aber bei den dürren Bäumchen auf der S-Bahntrasse?

Das mallorquinische Staunen ging weiter. Bei unserem Rundgang durch Schöneberg rief F. plötzlich aus: „Sieh mal, was auf der großen Uhr steht! Ich blickte nach oben, in die angezeigte Richtung und konnte zunächst nichts Besonderes entdecken. „Schau mal, was da steht.“ 3 Minuten zur Apotheke. „Nicht zwei Minuten, auch nicht vier, nein – genau drei Minuten.“ Deutsche Präzision, setzte er noch nach. Ich hatte mir bis dahin über solche Schilder keine Gedanken gemacht, bei seinem kleinen Diskurs fand ich es allerdings auch eher belustigend. Was, wenn jemand sehr, sehr langsam läuft, gelten dann immer noch die drei Minuten? Oder bei einem Jogger? Der schafft es bestimmt unter einer Minute, die Apotheke zu erreichen…

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Nicht 2, nicht 4, nein! 3 Minuten…

Wir kehrten kurz bei der Drogerie Rossman ein. Auch hier gab es reichlich zu schauen für den Mallorquiner in Berlin. Eine ältere Dame, vielleicht um die 60, schien seine Aufmerksamkeit besonders gefangen zu haben. Die Frau trug eine Reflektorenweste, wie man sie in Deutschland eben gerne trägt, wenn man auf dem Fahrrad in der Dunkelheit unterwegs ist. Diese Weste schien ein großer Stein des Anstoßes zu sein für den mallorquinischen Geschmack. Ich fragte interessiert nach, was genau an dieser Dame mit der Weste denn so anrüchig sei. „Einmal, eine Dame in dem Alter, sollte nicht mit einer solchen Weste an die Öffentlichkeit gehen, sich quasi entspannt im öffentlichen Raum bewegen“, meinte F., „und außerdem, wie übertrieben ist das denn bitte, eine solche Sicherheitsweste??“ Das deutsche Bestreben nach Sicherheit gepaart mit dem aus mallorquinischer Sicht fehlenden ästhetischen Bewusstsein für Form und Farbe ließen mich laut auflachen. So ganz habe ich bis heute nicht verstanden, was genau sein Problem mit der Reflektorendame war…zumal F. jetzt auch kein „senorito“ ist, der immer geschniegelt das Haus verlässt.

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Solche Westen sollten, laut mallorquinischem Geschmack, nur von Kindern oder in wirklich „angebrachtem Umfeld“ getragen werden…

Wir kamen in die Wohnung. F. wollte sein Handy aufladen. „Es tut mir leid, Doro, aber keine Steckdose funktioniert“, meinte er bedauernd. Ich verstand ihn nicht. Hatte ich doch eben noch zig Steckdosen in jedem Zimmer gesehen. Meine Freunde haben eine 3-jährige Tochter. Entsprechend kindergesichert ist die Wohnung. Vor den Schränken gibt es Spezialhaken, die die Türen zuhalten, der Kühlschrank ist mit einem hoch oben angebrachten Kreppkleber verschlossen. Die Steckdosen sind, natürlich!, ebenfalls mit Kindersicherung versehen. Das System scheint auf Mallorca nicht bekannt. Ich steckte kurzherhand den Stecker rein, drehte ihn einmal 180 Grad herum und die beiden Steckfüßchen konnten einrasten. „Oho, oha, Wahnsinn“, meinte F. Deutsche Gründlichkeit und Sicherhiet auch hier.

Unterm Weihnachtsbaum blieb es weitgehend vorhersehbar

Von all den anderen aufregenden Dingen, die wir in der kurzen Zeit in Berlin erlebten, will ich jetzt gar nicht berichten. Vom „Fast-Brand-Löschen“ des Adventskranzes bis hin zu weiteren „Fast-Unfällen“. Vielleicht hätte ich den Spruch des Glückskekes (Euch erwarten viele Abenteuer) ernster nehmen sollen.

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Bescherung pünktlich zur Dunkelheit

Der Heilig Abend im Kreise der Familie meines Bruders war zumindest relativ überraschungsfrei. Obwohl…nicht ganz. Fasziniert beobachtete er, wie intensiv mein Bruder sich dem Kochen widmet. In Spanien seiner Meinung nach kaum vorstellbar. Mein Bruder ist ein fantastischer Koch. Alles, was er zaubert, schmeckt köstlich. Die Füllung der Gans war einmalig, das Rotkraut hatte bereits mehrere Tage gezogen, damit es richtig intensiv im Geschmack war. Die Knödel kamen nicht aus der Pfanni-Packung, sondern waren aus einem österreichischen Spezial-Schüttelbrot geschreddert, mit angebratener Zwiebel und Speck und Milch verfeinert und im heißen Wasser gezogen oder geseit (wie auch immer man das schreibt). Ich steuerte immerhin die Vorspeise bei, meine Schwägerin einen sehr leckeren Nachtisch. Doch nicht nur das Kochen, auch das Küchesaubermachen blieb weitgehend in Männerhand…

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Gute deutsche Weihnacht mit Gans, Knödeln und Rotkraut

Was ohne Hindernisse flutschte war die Kommunikation mit meiner Nichte und meinem Neffen. Kinder sind eben doch grenzenlos gleich, die Spiele international vergleichbar und die sprachlichen Barrieren geringer. Herumtollen und Witze reißen geht eben in allen Sprachen!

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Spielen kennt keine sprachlichen Barrieren

Am letzten Tag bekam F. noch eine nette Weihnachtsbotschaft von Freunden aus Oldenburg. F. wollte begeistert von der Gans, den Knödeln und dem Rotkraut, das wir genossen hatten, erzählen. Er fragte mich: „Was bedeutet Strubel?“ Ich wusste nicht genau, was er meinte. Tippte auf „Strudel“, wunderte mich aber, warum ausgerechnet zu Weihnachten die Sprache auf Strudel käme. Dann sah ich die Nachricht der Freunde.

Fs Text: „Wir haben gefühlte Gans genossen mit Knodeln.“

Die freundliche Antwort der Oldenburger. „Das ist schön. Wir sind ja eher Vegetarier und gönnen euch den Schmaus. Bei uns ist es auch schön. Mit all dem Weihnachtstrubel.“

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